Kategorie: Caminho Portugues

Vom 16.08.2016 bis zum 03.09.2016 bin ich mit meinem Rucksack auf dem Caminho Portugues unterwegs gewesen – immer den gelben Pfeilen nach von Porto bis nach Finisterre. Wer einen klassischen Reiseführer sucht, ist hier falsch, davon gibt es mittlerweile mehr als genügend auf dem Buchmarkt. Wie immer erzähle ich hier, was mich während der Wanderung bewegt und beschäftigt hat. Ich wünsche Euch viel Spaß und Unterhaltung beim Lesen!

Caminho Português – Tag 11: Ein Tag in Santiago de Compostela

DSC_0794Heute gibt es den allerersten wirklichen Langschläfertag der gesamten Reise, denn dadurch, dass wir nicht zum nächsten Ort laufen, sondern im Last Stamp noch eine weitere Nacht bleiben, müssen wir nicht in aller Herrgottsfrühe auschecken. Also greift Plan B: ausschlafen.
Irgendwas mache ich aber trotzdem falsch, denn schon um kurz nach acht bin ich topfit und frisch geduscht – aber nicht aus einem Zwang heraus, sondern einfach weil es sich richtig anfühlt. Die Mädels schlafen noch tief und fest, weshalb ich beschließe in der kleinen Bar direkt gegenüber der Herberge zu frühstücken – kann ich machen, schließlich bin ich ja im Urlaub.

Unser erster und einziger Pflichttermin des Tages ist die Pilgermesse um 12:00 Uhr, denn wir wollen auf jeden Fall den Botafumeiro in Aktion sehen.

 

 

 


Exkurs: Botafumeiro

DSC_0791Eigentlich ist ein Botafumeiro recht unspektakulär, ist es doch nicht mehr als das galizische Wort für einen Weihrauchkessel. Aber es ist DER Weihrauchkessel: In der Kathedrale von Santiago de Compostela hängt ein Exemplar, das 1,60 Meter hoch ist und ungefüllt etwa 54 Kilogramm Gewicht auf die Waage bringt. In Bewegung gesetzt wird es mittels eines Seils, dessen Länge zwischen 30 und 66 Metern angegeben wird, durch die acht sogenannten Tiraboleiros. Diese bringen den Weihrauchkessel auf eine Geschwindigkeit von über sechzig Stundenkilometern, am tiefsten Punkt berührt er fast den Boden. In der Geschichte kam es zu mindestens vier dokumentierten Zwischenfällen: 1499 soll der Botafumeiro im Beisein von Katharina von Aragon das Fenster des Südportals durchschlagen und auf der Plaza de las Platerías aufgeschlagen sein. Weitere ähnliche Ereignisse soll es 1622, 1925 und 1937 gegeben haben. Da stellt sich doch wirklich die Frage, warum ein solch großer Kessel zum Einsatz kommen muss. Ganz einfach: Bis 1786 speisten und nächtigten die Pilger auch in der Kathedrale und Hygiene wurde damals nicht so groß geschrieben wie heute – der Botafumeiro wurde gebraucht um mit dem Weihrauch einen angenehmen Geruch in der Kathedrale zu verströmen.

(Vor Beginn der Pilgermesse wird in allen erdenklichen Sprachen darauf hingewiesen, dass Bild- und Tonaufnahmen der Botafumeiro-Zeremonie streng untersagt sind. Nun ja, daran gehalten habe ich mich nicht. Übrigens auch sonst kaum jemand. Leider ist die Qualität meiner Videoaufnahme nicht vorzeigbar, daher verweise ich an dieser Stelle auf Youtube.)

 


 

DSC_0792Da die Kosten für den Einsatz des Botafumeiro mit 300 Euro (Kohle, Weihrauch, Lohnkosten für die Tiraboleiros, Seilverschleiß) ziemlich hoch sind, gibt es das Spektakel nur freitags um 19:30 Uhr zu sehen, im Heiligen Jahr aber während jeder Pilgermesse. Das nächste Heilige Jahr findet zwar erst wieder 2021 statt, aber in diesem Jahr hat Papst Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit proklamiert und da gelten die gleichen Regeln. Gut für uns, denn so bekommen wir eine Vorstellung des Botafumeiro geboten und können die Kathedrale durch die geöffnete Heilige Pforte betreten.
Also gönnen wir uns das volle Programm: Zusätzlich zu den genannten Punkten umarmen wir noch die Jakobsstatue und besuchen das Grab des Heiligen Jakobus. Nach einer anschließenden ausführlichen Besichtigung der Kathedrale verbringen wir den Rest des Tages damit, jeden – aber auch wirklich jeden – Souvenirladen der Stadt aufzusuchen. Zwischenzeitlich treffen wir uns noch mit Rocio, einer jungen Dame aus Sevilla, die wir bereits am ersten Abend im Kloster getroffen haben. Sie war gemeinsam mit ihrem Vater unterwegs, musste aber verletzungsbedingt aufgeben und ich bereits vor einigen Tagen mit dem Bus nach Santiago de Compostela gefahren. Wir gehen mit ihr etwas essen und trinken, dann setzen wir unsere Shoppingtour fort.
DSC_0797Dabei kommen wir auch zu einem sehr schönen kleinen Laden mit dem Namen „The Pilgrim“, der eigentlich alles hat, was ich an Souvenirs mitnehmen möchte. Allerdings kaufe ich diese nicht hier und heute, denn dann müsste ich sie ja bis nach Finisterre schleppen. Stattdessen mache ich ein Foto von der Fassade des Ladens um diesen in einigen Tagen wiederfinden zu können.
Abends treffen wir uns mit unseren Italienerinnen um ein letztes Mal zusammen zu essen, bevor es dann zwangsläufig heißt Abschied zu nehmen. Um drei Uhr in der Nacht werden Sylvia und Dorian sich auf den Weg zum Flughafen machen, die Italienerinnen fahren mit Sarah zusammen mit dem Bus nach Finisterre, während ich mich zu Fuß auf den Weg dorthin mache. Wir beschließen den Abend zu einer für meine Verhältnisse unverschämt späten Uhrzeit um 01:00 Uhr in der Früh, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass dieser Tag und unsere gemeinsame Zeit niemals zu Ende gehen würde. Dennoch muss ich auch heute wieder schreiben (und das ist mir nie so schwer gefallen):
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 12: Von Santiago de Compostela nach Negreira

Ich werde um 07:00 Uhr wach. Die Betten neben mir – leer. Es fühlt sich an, als wäre ich gerade unvermittelt aus einem wunderschönen Traum gerissen worden. Ein großes schwarzes Loch tut sich auf, ich darf aber nicht reinfallen, sondern muss nach vorne schauen. Und so quäle ich mich aus dem Bett, mache mich fertig und verlasse um Viertel nach acht das Hostel. Kaum fünf Minuten später laufe ich über den Praza do Obradoiro, den großen Platz vor der Kathedrale und biege am Parador-Hotel links ab.
DSC_0813Am Dienstboteneingang steht einsam eine junge Pilgerin – Simona aus Litauen -, die ich in den letzten Tagen desöfteren auf dem Weg gesehen habe. Aufgefallen ist sie mir aufgrund ihres markanten grünen Umhangs, den sie sich (so erzählt sie mir später) während ihrer Pilgerreise seit Lissabon eslbst genäht hat. Ich stelle mich neben sie und wir warten gemeinsam darauf, dass es 09:00 Uhr wird. Es ist nämlich so, dass das Parador eine langgehegte Tradition hat. Dazu muss man zunächst wissen, dass das Parador im Jahr 1499 von den katholischen Königen Ferdinand und Isabella als Krankenhaus für die Pilger gebaut wurde, die ihren Pilgerweg hier in Santiago beendeten. Sie bekamen hier Unterkunft, Verpflegung und (ganz wichtig) medizinische Versorgung für drei Tage. Im Jahr 1953 wurde das Gebäude geräumt um es in Wahrzeichen der Stadt zu verwandeln. Ein Jahr später wurde es wiedereröffnet als Hotel „Hostal dos Reis Catolicos“ („Die heiligen zwei katholischen Könige“).
DSC_0811Eine Tradition aber hat diese Verwandlung überlebt: Noch heute werden zu jeder Mahlzeit (Frühstück, Mittagessen und Abendesssen) des Tages zehn Pilger eingeladen, die ihren Pilgerweg nach Santiago mittels der Compostela nachweisen können. Einzige Voraussetzung: Die Compostela darf nicht älter sein als drei Tage.
Das trifft auf uns beide zu und so warten wir darauf, dass sich die Pforte öffnet und wir hereingebeten werden. In der Zwischenzeit kommen wir miteinander ins Gespräch. Sie fragt mich, in welchem Hostel ich in Negreira unterzukommen gedenke und sagt auf meine Antwort, sie werde es in einem anderen Hostel versuchen, und zwar in der staatlichen Herberge, die koste nur sechs Euro. „In Lithuania we don’t have so much money like the Germans. We only have about eleven refugees.“ Dabei grinst sie mich mit einem verschmitzten Lächeln an. Ich kann gerade nicht lachen, das ist mir heute morgen vergangen.
DiDSC_0809e Pforte öffnet sich, wir werden hereingebeten. Auf die Kontrolle der Compostela wird verzichtet, denn wir sind eh nur zu zehnt, da ist das gleich mal egal. Kreuz und quer durch die Katakomben des Gebäude, die so überhaupt nicht nach einem Fünf-Sterne-Hotel aussehen, gelangen wir in die Küche, wo drei von uns mit Tabletts und Thermoskannen beladen werden. Das Frühstück, das uns kredenzt wird, ist einfach gehalten: Es gibt Milchkaffee, kleine Croissants und Zimtschnecken, das aber in einer Menge, die locker für die doppelte Anzahl an Pilgern gereicht hätte. DSC_0810Kaum habe ich eine Zimtschnecke aufgegessen, legen mir die anderen eine weitere auf meine Serviette (Teller bekommen wir nicht, aber das ist in Ordnung, denn so hat das Personal weniger Arbeit mit uns) und strahlen mich an. Dabei sagt einer von ihnen mehrfach, ich sähe so aus, als könne ich die Kalorien gebrauchen. Stimmt wahrscheinlich auch, aber in erster Linie esse ich so viel wie möglich, weil die Backwaren einfach unverschämt lecker sind. Außerdem sind sie noch warm und dem Geruch im Küchentrakt nach zu schließen, sind sie hier frisch zubereitet worden.
Nach dem Frühstück verabschieden Simona und ich uns voneinander, denn nachdem sie es gestern zweimal nicht geschafft hat zur Messe in die Kathedrale gelassen zu werden, möchte sie es heute um 11:00 Uhr nochmal versuchen. Ich versorge sie noch mit Tipps, wo sie ihr Gepäck während der Messe unterbringen kann und über welchen Zugang sie es am Besten versuchen sollte, dann trennen wir uns und ich ziehe los.
In meinem Kopf macht sich eine vertraute Leere breit, die ich in den vergangenen Tagen nicht hatte und auch nicht vermisst habe. Stupide setze ich einen Fuß vor den anderen und folge den gelben Pfeilen. Über den Rest des Tages gibt es nichts zu berichten, denn es wird deutlich, dass diese Etappe lediglich der Distanzbewältigung dient – Es gibt absolut nichts zu sehen, außer der zugegebenermaßen schönen Landschaft. Das bestätigt auch mein Wanderführer, der sich ungewohnt wortkarg zeigt.
DSC_0817Zu meiner Unterkunft für diese Nacht (Albergue El Carmen) kann ich sagen: Der Name ist das schönste daran. Vielleicht sogar das einzig schöne. Vor allem das Personal strahlt eine unangenehme Mischung aus Unfreindlichkeit und Inkompetenz aus, was ich vor allem dann erfahren darf, als ich es wage, die Waschmaschine benutzen zu wollen. Hätte ich vorher gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich gleich zur Kernseife gegriffen und meine Wäsche per Hand gewaschen. So verbringe ich eine halbe Stunde damit zuzuschauen, wie zwei gestandene Machos Männer daran scheitern, die Maschine in Gang zu bringen, nur um anschließend die Frau des Hauses zu rufen, die sich dann darum kümmern muss.

Zu meiner Überraschung treffe ich, als ich in den Aufenthaltsraum zurückkehre, Simona. Zwar wollte sie in eine andere Herberge, wie sie mir ja schon in Santiago erzählt hatte, diese hat jedoch geschlossen. Auch gut, so haben wir noch ausgiebig Zeit uns miteinander zu unterhalten.

Abends kaufe ich mir im einzigen Supermarkt von Negreira etwas zu essen und verbringe den Abend damit, die vergangenen Tage schriftlich aufzuarbeiten und in den schönen Erinnerungen zu schwelgen.
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 13: Von Negreira nach Olveiroa

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Kurz nach Tagesanbruch passiere ich diesen See. Eine wunderbare Kulisse für meinen heutigen Weg!

Ich verfalle merklich in alte Muster: Der Wecker klingelt um 05:30 Uhr, eine Stunde später laufe ich los. Es ist stockduster, ich kann die Pfeile kaum sehen. Als der Weg in den Wald führt, muss ich eine erste Zwangspause einlegen.

Jedes Jahr aus Neue lache ich mich kaputt über die Leute, die im Camping Village der Nature One mitten in der Nacht ihr Zelt im Schein einer Taschenlampen-App aufbauen. Jetzt bin ich derjenige, der durch den Wald rennt und versucht mit seinem Handy einen Lichtkegel zu erzeugen, der groß genug ist um auch nur im Ansatz irgendetwas zu erkennen. Die erste Stunde ist so echt mühsam, dann wird es langsam hell und je weiter die Dämmerung fortschreitet, desto mehr kann ich sehen. Dann komme ich auch langsam in Gang und von da an läuft es flüssig durch.

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Ja, ich gebe es zu: Auch ich habe mal eine Pause gemacht. Keine Ahnung mehr, wie diese Brücke heißt, aber es fand sich ein passierender Pilger um diesen raren Moment festzuhalten.

Ohne dass ich großartig hetze oder mich beeile, fliegen die Weiler nur so an mir vorbei und ehe ich mich versehe, liegt links von mir auch schon die Albergue von Vilaserio – an sich nichts besonders erwähnenswertes, diese Herberge markiert lediglich die erfolgreiche Absolvierung des ersten Drittels der heutigen 33,2 Kilometer langen Wegstrecke. Als ich dann etwas mehr als eine Stunde später auch Santa Marina durchquere und die Landstraße AC-403 kreuze, ändert sich das Bild drastisch. Von jetzt auf gleich verabschiede ich mich aus der Zivilisation und laufe die Berge rauf und wieder runter. Bin ich bis hierher regelmäßig anderen Pilgern begegnet, ist damit nun Schluss und ich befinde mich alleine auf weiter Flur. Die Natur ist beeindruckend und lässt sich kaum in Worte fassen, daher beginne ich penibel jeden Quadratzentimeter fotografisch festzuhalten.

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Nach vielen Kilometern in der absoluten Einöde heißt es: Willkommen in der Zivilisation!

Dann erreiche ich wieder die Zivilisation und passiere Ponte Olveira. „Zivilisation“ ist hier bitte relativ zu verstehen, Ponte Olveira besteht aus dreißig Einwohnern und zwei Herbergen mit insgesamt dreißig Betten. Dieser Ort geht fließend in Olveiroa über, mit 110 Einwohnern und 95 Pilgerbetten fast schon eine Metropole. Im Prinzip kann ich damit an den heutigen Tag einen Haken machen, aber als ich auf die am morgigen Tag anstehende Etappe schaue, die mit 31,5 Kilometern angegeben ist, fasse ich einen folgenschweren Entschluss: Nachdem es gerade so gut läuft und es gerade einmal zwei Uhr ist, schaffe ich es locker noch zur nächsten Herberge, die im vier Kilometer entfernten Logoso liegt. Ohne jetzt zu viele Worte zu verlieren: In Logoso beschließe ich dann, bis Hospital weiterzulaufen, das ist die nächste, weitere zwei Kilometer hinter Logoso liegende Herberge.

Dass dieses sehr idyllisch zwischen der häßlichen Eisenfabrik von Dumbria und der Hauptverkehrsstraße gelegen ist, ist zwar für den Gesamteindruck nicht gerade förderlich, interessiert mich aber nicht, denn langsam aber sicher machen sich meine Füße bemerkbar, die ich jetzt gerne hochlegen und schonen möchte.

Ich betrete also dieses Gebäude und das Unheil nimmt seinen Lauf: Zunächst einmal ist es unfassbar laut, denn es befinden sich mehr Leute in dieser Bar als eigentlich hineinpassen. Es sind aber keine Pilger oder sonstige Übernachtungsgäste, sondern Gäste der Betreiber, die gerade eine Party feiern. Als ich einige Minuten an der Bar gestanden habe, kommt ein alter Mann auf mich zu und schaut mich fragend an. Ich frage ihn mit den wenigen Brocken Spanisch, die ich mittlerweile erlernt habe, ob es noch ein freies Bett gibt, er sagt „Si!“, dreht sich um und ward nicht mehr gesehen. Einige Minuten später kommt eine ältere Frau auf mich zu, ich frage sie, ob sie Englisch spricht. Sie sagt: „Yes, of course! My English is perfect, I give English classes“. Als ich sie bitte, für mich in der staatlichen Herberge von Dumbria anzurufen und nachzufragen, ob es dort noch ein freies Bett gibt, versteht sie plötzlich kein Wort mehr und sagt ständig nur noch „Acqui!“, also „Hier!“. Leider hat das ganze ein Mann mitbekommen, der neben mir steht und der blöderweise auch noch fließend Englisch und Spanisch spricht, was ihr sichtlich unangenehm ist. Er teilt mir nach längerem Hin und Her mit, dass sie dort nicht anrufen wolle, weil in Dumbria heute ein Fest stattfinde und die Herbergen deswegen wahrscheinlich schon voll seien.

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Während der ganzen Zeit, die ich an diesem unbehaglichen Ort, der Albergue O Casteliño, verbringe, habe ich vor meinem geistigen Auge den Weg, der mir zuzurufen scheint: „Geh weg von diesem Ort, komm zu mir“. Ich höre auf den Weg.

Ich schaue ihn fassungslos an, denn auf genau diesem Kenntnisstand war ich bereits vor vielen Minuten. Zwar ist die Information das Fest betreffend neu, aber dass die Herberge möglicherweise belegt sein könnte, hatte ich aufgrund der fortgeschrittenen Zeit vermutet. Ihr verständlich zu machen, dass das ja genau das Detail sei, wegen dem ich sie gebeten hatte dort anzurufen (was sie auch noch entschieden ablehnt, als ich ihr Geld für das Telefonat anbiete), erspare ich uns beiden. Stattdessen schultere ich erneut meinen Rucksack und laufe los, denn bis wir das Ganze ausdiskutiert haben, bin ich schon lange bei der nächsten Herberge im knapp fünf Kilometer entfernten Dumbria angekommen. Zu der Herberge, die ich gerade hinter mir lasse, sollte ich noch zwei Dinge erwähnen: Für ihre Gäste haben die Besitzer in einem Nebenraum ein reichhaltiges Buffet aufgebaut, für mich wird es aber nichts warmes zu essen geben, da – wie sie mir später noch mitteilt – die Küche heute den ganzen Tag wegen des Festes in Dumbria geschlossen ist (Die Frage nach dem Zusammenhang klemme ich mir mal). Mein Bett für die Nacht wäre im gleichen Raum gewesen wie die Bar, in der sich die Party abspielt, lediglich abgetrennt durch eine Wand aus MDF-Platten, die nicht einmal bis zur Decke reicht – ich wäre also wahrscheinlich die gesamte Nacht unfreiwilliger passiver Teilnehmer der Party gewesen.

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Auch auf dem Caminho gilt es folgenschwere Entscheidungen zu treffen!

Das unbehagliche Gefühl, das mich schon bei Betreten der Albergue O Casteliño ereilt hat, spornt mich noch mehr an weiterzulaufen. Der Weg nach Dumbria führt ab diesem Punkt, an dem man sich zwischen dem Ziel Muxia oder Finisterre entscheiden muss, zwar auf Schotterwegen konstant steil bergauf, aber erstens entschädigt die Schönheit der sich eröffnenden Täler für diese Strapaze, zweitens schlafe ich lieber vor der Tür der nächsten Herberge auf dem kalten Boden (Isomatte habe ich ja keine dabei), als auch nur einen einzigen Cent hier zu lassen und drittens freue ich mich darüber, dass mit jedem zurückgelegten Meter die morgige Etappe nach Muxia kürzer wird.

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Eine Panoramaaufnahme vom Weg zwischen Olveiroa und Dumbria. Dass der Weg, den ich gerade gehe (rechts im Bild), der gleiche ist, der sich im späteren Verlauf die Berge hochkämpft (bei genauem Hinsehen links oben im Bild zu erkennen), brauche ich wohl nicht erwähnen. Vor mir liegt ein weiter Weg!

Ich bin gefühlt er zwei Kilometer gelaufen, da taucht vor mir ein markantes rot-blaues Gebäude auf – es ist die Albergue O Conco. Aus der Ferne sehe ich einen weißen Zettel in der Türe hängen und breche innerlich zusammen, denn das machen die Hospitaleros immer dann, wenn die Herbergen belegt sind. Als ich wenige Minuten später vor der Türe stehe, kann ich folgenden Text lesen: „Open from 13:00 to 22:00h. The door is open. There are free beds in the bedrooms. Choose one bed, please. We return soon. Price: 6€. Thanks.“

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Dieses Bild habe ich von der Internetseite der Herberge geklaut, man möge es mir verzeihen!

Überglücklich betrete ich das Gebäude, suche mir ein Bett und stelle mich danach für eine halbe Stunde unter die heiße Dusche – selten hat es so gut getan einen Strahl heißen Wassers auf die total verhärtete Schultermuskulatur zu bekommen. Als ich die Dusche verlasse, fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Ich ziehe saubere, trockene Sachen an, wasche meine triefend nass geschwitzten Sachen, die ich heute den ganzen Tag über anhatte, dann schlüpfe ich in meine Sandalen und ziehe los den Ort zu erkunden. Bei einem etwas größeren Weiler mit gerade einmal 480 Einwohnern ist man da schnell durch. An einer Bar, deren Türe geschlossen ist und die drinnen stockdunkel ist, halte ich kurz an, denn gerade kommt ein älterer Mann, offensichtlich der Besitzer, heraus. Da er leider kein Wort Englisch versteht, kann ich nun also endlich mit meinen exzellenten und vor Eloquenz strotzenden Spanischkenntnissen punkten: Ich zeige auf die Bar und frage: „Abierto?“. Er schaut mich an und macht eine Geste, die soviel heißt wie: „Die einen sagen so, die anderen sagen so“. Meine äußerst eloquente Frage „Agua sin gas?“ veranlasst ihn dazu hineinzugehen, die Türe des anliegenden Supermarktes aufzuschließen und das Licht anzuschalten. Dass in diesem Moment auch erst mit einem lauten Brummen die Kühlung der Vitrine anspringt, in der das Frischfleisch fachgerecht bei Zimmertemperatur gelagert ist, übersehe ich geflissentlich.

Mir fällt plötzlich wieder ein, dass heute ja Sonntag ist und deswegen der Supermarkt eigentlich geschlossen hat. Ich kaufe mir eine Flasche Aquarius, zwei Dosen Coca-Cola und gönne mir außerdem noch ein Schokoladen-Blätterteit-Gebäck.

Was es sonst noch über diesen Ort zu berichten gibt: Man ist offensichtlich überglücklich, dass eine Berühmtheit wie ich den Ort besucht, denn im Stadion gleich neben der Herberge wird mir zu Ehren ein Fußballspiel veranstaltet und auf dem Vorplatz der Kirche beginnen Leute gerade damit eine Bühne aufzubauen, auf der heute Abend zu meiner Belustigung Musik und Tanz dargeboten wird. Das wäre zwar nicht nötig gewesen, aber ich nehme es wohlwollend zu Kenntnis.

DSC_0820Während ich, gerade als ich diese Zeilen schreibe, in meiner Residenz auf dem Balkon sitze, von dem aus ich später zum Volk sprechen werde, finden auf besagter Bühne bereits Proben für heute Abend statt und ich stelle fest, dass sich das durchaus vielversprechend anhört. Ich sitze also hier und mein Blick fällt auf einen Wegstein, der die noch zu laufende Distanz mit etwas mehr als 23 Kilometern angibt. Losgelaufen bin ich heute morgen in Negreira bei Kilometer 71, somit habe ich heute 48 Kilometer auf dem Tacho stehen. Vor meinem geistigen Auge erscheint wieder die Hospitalera aus Tui, mit erhobenem Zeigefinger und mahnendem Blick höre ich, wie sie es sagt: „Stupido!“.

DSCF6590Nachdem ich einige Zeit das Fußballspiel angeschaut habe (es ist übrigens ziemlich langweilig, exzessiv den Schiedsrichter anzupöbeln und zu beleidigen, wie es sich ja für ein Kreisklassenspiel gehört, wenn dieser mich nicht versteht), wundere ich mich ja schon ein wenig über die Regelabweichungen zum deutschen Fußball: Es gibt zwar einen Schiedsrichter, aber keine Linienrichter. Im Zweifelsfall wird erst ausgiebig diskutiert und anschließend demokratisch abgestimmt, ob ein Ball nun im Aus war oder nicht.

DSC_0824Im Anschluss an das Fußballspiel habe ich leider nicht mehr viel Zeit für das Volksfest, das bereits im vollen Gange ist, lasse es mir aber dennoch nicht nehmen noch eine Viertelstunde der Tanzdarbietung beizuwohnen, bevor ich zur Herberge zurückkehre, die ich zehn Minuten vor Zelleinschluss erreiche.

Nachdem ich noch ein feudales und reichhaltiges Mahl zu mir genommen habe (trockenes Brot und stilles Wasser), falle ich auch schon ins Bett.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 14: Von Olveiroa nach Muxía

Als ich wach bin, bin ich wie gerädert – so bescheiden habe ich noch nie geschlafen, und das, obwohl wir nur zu zweit sind, mein temporärer Mitbewohner nicht schnarcht (was ich aufgrund des Einsatzes von Ohropax sowieso nicht mitbekommen hätte; die Information möchte ich Euch aber dennoch nicht vorenthalten) und auch von dem Straßenfest nichts zu hören war (wegen: siehe oben). Es ist 07:40 Uhr, als ich endlich aufstehe, mein Zeug zusammenraffe und mit dem Bündel in der einen Hand und dem Rucksack in der anderen Hand auf den Flur gehe um dort alles für den heutigen Tag zu packen.

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Der Bäcker ist wohl länger nicht mehr hier vorbeigekommen und die Bewohner sind – wie Nomaden – weitergezogen auf der Suche nach Nahrung.

Das Frühstück – bestehend aus Café con Leche – gedenke ich heute in Senante einzunehmen, dafür muss ich allerdings erst einmal acht Kilometer laufen. Als ich mich und mein Zeug soweit sortiert habe, marschiere ich los, beginnend bei dem Wegstein „Km 23.xxx“, der mir die noch verbleibende Distanz nach Muxía anzeigt.
Ich fühle, wie ich förmlich schwerelos über den Asphalt beziehungsweise über die Kieswege fliege und ehe ich mich versehe, bin ich knappe 1,5 Stunden später auch schon im Landeanflug auf meinen Kaffee. Bis hierher ist landschaftlich nicht viel passiert, außer, dass ich ständig durch eine unfassbar schöne Gegend laufe, die ich gerade sehr genieße, in der ich aber sonst nicht tot überm Zaun hängen wollte, so abgeschieden ist es hier. Wie auch schon während der vergangenen zwei Tage frage ich mich andauernd, wie sich die hier lebenden Menschen mit den elementarsten Dingen versorgen.

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Es ist ja zu befürchten, dass diese Gerätschaft noch immer verwendet wird. Vom Zustand her passt diese Kreissäge auf jeden Fall zu den Häusern dieser Region.

Klar, hinter jedem Haus gibt es einen Garten, Kühe, Ziegen und Schafe sind auch reichlich vorhanden, womit schon mal eine gewisse Grundversorgung gewährleistet ist. Aber alles andere? Mal abgesehen davon, dass ich kaum Autos oder sonstige motorisierte Vehikel sehe (außer natürlich der Bäcker, der hat einen kleinen Lieferwagen. Bisher bin ich praktisch jeden Morgen live dabei gewesen, wie er durch die Dörfer fährt und Plastiktüten mit Backwaren an die Türklinken der Häuser hängt) und die Menschen möglicherweise über einen Lieferdienst versorgt werden – wenn die mal vergessen etwas bestimmtes zu bestellen, dann gibt es das halt die ganze Woche über nicht, oder zumindest solange, bis der Lieferdienst das nächste Mal klingelt.

DSCF6611Während ich diesbezüglich vor mich hin sinniere, taucht vor mir auch schon Quintáns auf, was bedeutet, dass auch schon die nächsten sechs Kilometer geschafft sind. Ich habe das Gefühl, dass ich heute einen Lauf habe 8Notiz an mich selbst: Hierfür bitte fünf Euro ins Phrasenschwein schmeißen!). Jetzt sind es also nur noch zehn Kilometer und plötzlich jagt eine Sehenswürdigkeit die nächste: Ich passiere das ehemalige Kloster von San Martino de Ozón und den dazugehörigen Hórreo (der mit 27 Metern Länge größte Kornspeicher Galiziens), etwas weniger als eine Stunde später lasse ich das älteste Kloster an der gesamten Costa da Morte – das Benediktinerkloster Monasterio de San Xulián de Moraime – rechts liegen, nicht ohne zuvor die dazugehörige Kirche in Augenschein genommen zu haben, was sich alleine deswegen schon lohnt, weil ich direkt nach Betreten des Gebäudes erstmal eine breite Treppe hinabsteigen muss um zum Hauptportal der Kirche zu gelangen.

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Nach über 350 Kilometern Wegstrecke über Asphalt, Waldwege und Schotterstraßen genieße ich es sehr, die Etappe vor Muxía über Holzstege am Strand entlang zu laufen.

Dann steigen plötzlich mein Puls und meine Laufgeschwindigkeit ins Unermessliche, denn wie aus dem Nichts lugt plötzlich vor mir der Atlantik zwischen den Bäumen hervor und ich empfinde die unbändige Freude darauf, mit meinen geschundenen Füßen den feinen weißen Sand des Playa de Espineirido zu berühren, während ich über einen Bohlenweg die letzten (Kilo-)Meter gen Muxía bestreite.

Was soll ich jetzt, da ich diesen Ort intensiv besichtigt habe, im Nachhinein zu Muxía sagen? Mit immerhin 1600 Einwohnern ist es eines von den verschlafenen Fischerdörfern, wie wir alle sie aus diversen Rosamunde-Pilcher- (bzw. in diesem Fall eher Inga-Lindström-)Verfilmungen kennen: Idyllisch, sehr schön anzuschauen, aber für sehr viel länger als einen Tag definitiv ungeeignet. Nachdem ich den Ort in seiner gesamten Länge (1,2 Kilometer) und Breite (zwei Straßen) mehrfach durchschritten habe, beschließe ich meinen ursprünglichen Gedanken zu verwerfen. Von mehreren Mitpilgern, die sich als Wiederholungstäter outeten, habe ich nämlich gehört, wie wunderschön Muxía sein soll, und habe daher die Option in Betracht gezogen, noch eine weitere Nacht hier zu bleiben. Das lasse ich wohl mal eher…

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Das ist sie also, die Kapelle der Virgen de la Barca. Der Legende zufolge hat sich der Apostel Jakobus hier am äußersten Ende der damals bekannten Welt zurückgezogen, um zu beten. Zutiefst verzweifelt über die Egozentrik der Menschheit soll ihm hier die Gottesmutter Maria auf einem steinernen Boot erschienen sein und ihn ermuntert haben, die Missionierung fortzusetzen. Daraus leitet sich auch der Name der Kapelle ab: „Jungfrau vom Boot“. Am 25.12.2013 brannte die Kapelle infolge eines Blitzeinschlages vollständig aus und wurde notdürftig wieder aufgebaut.

Stattdessen laufe ich vor zum Kap, wo die altehrwürdige Virxe da Barca steht, oder besser: das ihr gewidmete Heiligtum.
Die Aussicht ist… tja, der Deutsche gebraucht hierfür gerne das Wort „unbeschreiblich“, das dadurch auch schon entsprechend ausgelutscht ist. Es ist aber nun mal wirklich nicht zu beschreiben, denn ich stehe selten an einem Kap am Atlantik und schaue über den Punkt hinaus, an dem die Welt endet. Ich bleibe eine kleine Ewigkeit sitzen und schaue aufs Meer. Hemingway hätte seine wahre Freude an diesem Motiv gehabt. „Der alte Mann und das Meer“ schrieb er ja in Teilen in der Bodeguita del Medio in Havanna. Nachdem ich dort in genau dieser Bar auf meiner Kuba-Reise ein, zwei, zwölf Daiquiris intus hatte, hatte ich das Gefühl ihm gegenüber zu sitzen und darüber zu reden. Und wer weiß: Vielleicht hatte er damals genau dieses Motiv vor Augen, das ich hier gerade inszeniere.

Ich schrecke hoch, es dämmert bereits. Ich muss wohl eingeschlafen sein, voll und ganz der Magie dieses Ortes erlegen. Ein wohliges Gefühl durchströmt meinen Körper – ich will jetzt nicht sagen, dass ich mich wie neugeboren fühle, aber auf jeden Fall ausgeschlafen und topfit. Den zu erwartenden Sonnenbrand nehme ich dafür gerne in Kauf.
DSCF6645In epischer Breite würde ich jetzt gerne darlegen, was ich den Rest des Tages noch alles gemacht habe, aber ich verweise hierzu auf meine anfänglich Anspielung auf Rosamunde Pilcher, denn dort wird ebenfalls in epischer Breit erzählt, dass im Grunde nichts passiert ist. Genauso verhält es sich bei mir am heutigen Tag. Ich gehe zurück zur Herberge, biege kurz vorher links ab und steige die Treppe zum Hafen hinab, betrete Timosus Bar, weil ich eigentlich gerne etwas essen möchte, beschließe unmittelbar beim Betreten der Lokalität, das auch definitiv tun zu wollen, aber nicht hier, setze mich – um die Situation für alle Beteiligten weniger peinlich zu gestalten – an einen der Tische (wobei alle Tische leer sind, bis auf einen einzigen, an dem die Frau und die Tochter des Besitzers vor einem Laptop sitzen und einen Haufen Klamotten im Onlineshop von Decathlon bestellen) und bestelle eine Cola, die ich auch prompt mit einem Glas (inklusive Eiswürfel und Zitronenscheibe) geliefert bekomme.
Nachdem ich das Glas in einem angemessen langen Zeitraum geleert habe (zu schnell hätte nach Flucht ausgesehen und das will ich vermeiden), steige ich die Treppe wieder hinauf, überquere die Straße, betrete und durchschreite die Herberge, nehme im Garten meine Wäsche von der Leine und verstaue diese in meinem Rucksack, verlasse die Herberge wieder, indem ich diesmal nicht geradeaus zum Hafen sondern nach links gehe, betrete drei Häuser weiter ein Restaurant und lasse mich dort zum Abendessen nieder. Anmerkung: Sollte hier der Eindruck entstehen, dass sich die gesamte erzählte Geschichte auf einer geografisch kleinen Fläche abspielt, so ist dies absolut erwünscht, weil der Realität entsprechend.
Ich bestelle das Pilgermenü für zehn Euro und bekomme dafür im ersten Gang eine vorzügliche Fischsuppe, die ich peinlicherweise halb auf dem Tisch verteile beim Versuch die Schalentiere zu öffnen. Werde das vor meiner nächsten dementsprechenden Bestellung ausgiebig üben.
Im zweiten Gang bekomme ich drei kleine Fische auf dem Grill gegart und mir auf einer Schiefertafel kredenzt, deren Name mir gerade entfallen ist. Ich weiß nur, dass ich das bisher noch nie gegessen habe, aber als „Lafer!Lichter!Lecker!“-Fan weiß ich natürlich sofort, was zu tun ist. Um drei Gänge (den Nachtisch habe ich verschwiegen) und eine Flasche Rotwein reicher wanke ich zurück zur Herberge und falle leicht angebrütet in eine gnädige Ohnmacht.
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 15: Von Muxía nach Finisterre

Die heutige Etappe wird hart und bedarf daher intensiver Vorbereitung. Zunächst einmal schlafe ich bis um sieben Uhr, mache mich und mein Gepäck startbereit, nehme ein Frühstück zu mir und bin um 07:40 Uhr startklar.

DSCF6667Gleich zu Beginn bekomme ich eindrucksvoll gezeigt, wo der Hammer hängt, denn es geht bergauf. Steil bergauf. 270 Höhenmeter auf einer Strecke von knapp zwei Kilometern mag sich jetzt erstmal nicht nach viel anhören, aber ich trage zwölf Kilogramm Gepäck auf meinen Schultern und habe Beine, die sich anfühlen als trüge ich Zementschuhe. Dazu knallt die Sonne schon jetzt um 08:00 Uhr gnadenlos vom Himmel, so dass selbst der Schatten beschlossen hat heute hitzefrei zu nehmen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass es auf dieser Bergetappe (genauso wie übrigens auf der gesamten Reststrecke auch) nicht einen einzigen Quadratzentimeter Schatten gibt.
Ich treffe am Fuß des Berges auf Carlos. Er kommt aus Mexiko und ist hier mit dem Fahrrad unterwegs. Die folgenden Kilometer liefern wir uns einen erbitterten Kampf, bei dem wir uns keinen Meter schenken, den ich aber letztlich für mich entscheiden kann. Auch wenn ich schimpfe wie ein Rohrspatz, als ich mich den Berg hinaufkämpfe: Mit einem Fahrrad ist der Aufstieg garantiert noch beschwerlicher, denn aufsitzen ist bei der Steigung schlichtweg nicht drin und ein bepacktes Fahrrad schieben macht auch keinen Spaß. Oben auf der Bergkuppe einigen Carlos und ich uns auf ein „Unentschieden“, als ich mich erst mal königlich verlaufe und ihn dann auf dem Rückweg an einer Kreuzung wiedertreffe. Danach geht es erstmal konstant bergab und Carlos ist mit seinem Fahrrad nicht mehr aufzuhalten und einzuholen. DSCF6672Die heutige Etappe führt konstant durch das absolute Nichts. Wenn mal ein Weiler (hier nie größer als drei oder vier Häuser) auf dem Weg liegt, kündigt sich dieser bereits lange im Voraus durch einen bestialischen Gestank an. Ich meine, Landwirtschaft ist ja schön und gut und wichtig und so, und ich kenne das ja auch aus meiner Heimat, aber das hier ist echt eine Zumutung: Es stinkt bestialisch, in etwa so als wäre hier bereits vor längerer Zeit irgendetwas gestorben. Meinen Würgereiz unterdrückend möchte ich jedes Mal schneller werden, alleine meine Beine verweigern den Gehorsam. DSCF6673

Erst kurz vor Lires treffe ich Carlos wieder in einem kleinen Container sitzend, der mit einem Snack- und Getränkeautomaten ausgestattet ist. Meine Wasservorräte habe ich zwar schon aufgebraucht, aber bis Lires sind es nur noch zwei Kilometer. Dort muss ich eh Halt machen und den Pflichtstempel des heutigen Tages abholen, der mich dazu qualifiziert, die offizielle Urkunde zu erlangen, die bestätigt, dass ich zu Fuß nach Finisterre gelaufen bin.
In Lires gibt es nichts, aber auch absolut überhaupt gar nichts. Als ich das Dorf betrete, halte ich Ausschau nach einem kleinen Laden, in dem ich den Stempel erhalte und vor allem – bei den aktuellen Temperaturen sehr wichtig – meine Wasservorräte auffüllen kann, denn meine Trinkflaschen sind von innen staubtrocken. Als ich das Schild passiere, das den Ortsausgang markiert, kehre ich um und laufe den Weg wieder zurück. Irgendetwas muss ich übersehen haben, denn ich bin an keinem Laden oder Café vorbeigekommen.

DSCF6675An einem Haus klebt ein kleines Plakat, dass ich auf dem Hinweg verpasst habe. Kein Wunder, denn eigentlich handelt es sich dabei um ein laminiertes DIN A4-Blatt, auf dem folgendes steht: „Selle su credencial en la mesa del patio“. Aha, ich soll also den Stempel vom Gartentisch nehmen und mein Credencial selbst abstempeln. Klare Anweisung, eigentlich. Sehr schön und vor allem äußerst kreativ finde ich die deutsche Übersetzung: „Dichtung carte des Camino de Santiago in der terrasse tabelle“. Danke Google, das ist echt süß! Nachdem ich den Stempel in meinen Pilgerpass gesetzt habe, wird mir eines erst so richtig bewusst: Ich habe kein Wasser mehr und es gibt hier in Lires nichts, was auch nur im Entferntesten an eine Bar, ein Café oder gar einen kleinen Laden erinnert. Lires liegt etwa auf der Hälfte der Strecke und auf den folgenden fünfzehn Kilometern bis Finisterre sind zwar zwei kleine Weiler auf der Karte zu sehen, aber keines der sonst üblichen Symbole für eine Verpflegungsstation. „Achten Sie darauf ständig einen Liter Wasser als Reserve dabeizuhaben“, so steht es in meinem Reiseführer. Hatte ich ja, habe ich aber aufgebraucht, nachdem ich die 1,5 Liter getrunken habe, die ich zusätzich zur Reserve dabei hatte. Und außerdem hatte ich Lires fest eingeplant als Wasserstelle, denn wo es einen Stempel gibt, gibt es immer auch eine Bar. Dass es überhaupt nichts gibt, ist ein Novum.
DSCF6679Ich bin heilfroh, als ich etwa 1,5 Stunden und sieben Kilometer später eine Holzbank und einen Holztisch sehe, die unter einem mit Holzlatten und Kunststoffplane notdürftig zusammengezimmerten Unterstand stehen und mit einem Schild markiert sind, auf dem „Pilgrim Information“ geschrieben steht. Der daneben gemalte gelbe Pfeil weist zum Wohnhaus, wo ich dann auch hingehe. „Do you sell water?“ ist alles, was ich mit staubtrockener Kehle noch zustande bringe. „No, we don’t sell water, but you can have a glass“, sagt die Frau des Hauses und reicht mir ein Glas. Ich stürze es runter als sei ich gerade zwei Wochen durch die Wüste zu einer Wasserstelle gelaufen. Das Bild, das ich abgebe, muss so aussehen wie die R’activ-Werbung aus den frühen Neunzigerjahren, jedenfalls schaut sie mich mitleidig an und füllt meine Flaschen auch noch für mich auf. Damit schaffe ich es dann auf jeden Fall bis nach Finisterre.
DSCF6682Die letzten Kilometer sind noch einmal richtig übel, denn nicht nur meine Beine sind kurz davor den Dienst zu quittieren, sondern in dem Moment, als ich den Atlantik sehe und noch fünf Kilometer an ihm entlangwandern muss darf, fängt auch mein Kopf an mich zu fragen, ob ich eigentlich noch ganz sauber bin. Den ganzen Tag über konnte ich meinen Kopf mit seinen Hausaufgaben beschäftigen und jetzt quengelt er wie ein kleines Kind: „Sind wir bald da? Ich hab Durst, ich muss mal! Wann ist „bald“?“. Dann entdecke ich an einer Straßenkreuzung eine kleine Bar, in die ich sofort hineinstürze (okay, mit Entledigung meines Rucksacks und kurzem Durchatmen dauert das schon ein paar Minuten) und eine eiskalte Coca-Cola bestelle. Anstatt mir die übliche Schale mit Erdnüssen auf den Tresen zu stellen, verschwindet der Wirt in einem dunklem Raum hinter dem Tresen und kommt mit einem kleinen Porzellanschälchen zurück aus dem eine Gabel hervorschaut. Darin dampfen munter Oktopus- und Kartoffelstücke vor sich hin – ich fühle mich wie im Paradies! Frisch gestärkt nehme ich die letzten zwei Kilometer in Angriff, die mich durch flimmernde Luft über vor Hitze fast weichem Asphalt immer entlang des weißen Sandes der Playa do Langosteiros nach Finisterre bringt.
Finisterre ist auf den ersten Blick laut, dreckig, voller Menschen. Der zweite Blick bestätigt das – ganze Reisebusse fahren an mir vorbei in Richtung des Leuchtturms am Kap. Wie schön ruhig und beschaulich war doch im Vergleich dazu Muxía!
Zunächst begebe ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft, mein Reiseführer gibt dazu ein paar Tipps. Die Herberge, die sich am besten anhört, nehme ich, checke ein und werde das am nächsten Tag bitter bereuen. Doch zunächst nehme ich eine ausgiebige Dusche um meine gepeinigten Knochen wieder einigermaßen zu versöhnen und zu einer weiteren Zusammenarbeit mit mir zu bewegen.
DSCF6684Dann mache ich mich auf den Weg den Ort zu erkunden. Bei der staatlichen Herberge hole ich mir die ehrlich verdiente Finisterrana ab, für deren Stempel ich ja – wie bereits berichtet – ein paar Extrakilometer gelaufen bin.
Dann laufe ich durch den Hafen, bis ich wieder einen der mittlerweile so vertrauten gelben Pfeile sehe. Ein Wegstein markiert die Distanz bis zum Ende der Welt mit knapp drei Kilometern, das ist gut machbar. Die kurvige Straße schlängelt sich am Berg entlang und mit jedem Meter nimmt die gefühlte Verkehrsdichte – sowohl an motorisierten Vehikeln aller Art als auch an Fußgängern – merklich zu, bis ich am Ziel ankomme: Ein Souvenirladen reiht sich an den nächsten, dazu gibt es noch zwei Gastronomiebetriebe zwischen Parkplatz und Leuchtturm zu passieren – das alles auf gerade einmal einhundert Metern.

DSC_0855Ich passiere die 0,0-Kilometermarkierung natürlich nicht ohne das obligatorische Foto von mir am Stein als Beweis für die Nachwelt zu machen, dann laufe ich am Leuchtturm vorbei zu den Felsen, klettere so weit wie möglich hinunter, setze mich und schaue ins Nichts. Ich weiß nicht mehr, welches Volk es genau war – ich glaube, es waren die Kelten, die in genau diesem Punkt, an dem ich jetzt sitze, das Ende der Welt sahen (daher auch der Name Finisterre: aus dem Lateinischen „Finis terrae“ = Ende der Welt) und alles, was sich dahinter befindet nur das „Meer des Vergessens“ nannten.
Ich bleibe einige Stunden hier sitzen und beende meine Hausaufgaben. Dafür brauche ich Ruhe und die Magie dieses Ortes – außerdem möchte ich nicht, dass mich jetzt jemand sieht oder stört. Es ist schon kurz vor sechs als ich aufstehe, mich von diesem Ort verabschiede und den Rückweg ins Dorf antrete. DSCF6696Etwa auf halber Strecke entdecke ich einen Wegweiser, der mir auf dem Hinweg nicht aufgefallen ist, genauso wenig wie der Schotterweg, der sich im rechten Winkel von der Straße abzweigend den Berg in Richtung Klippe schlängelt. „Cemeterio“ steht auf dem Schild, ein Friedhof also. Als ich hinunterschaue, kann ich auf der Klippe mehrere Steinquader entdecken, die ich schon vielfach auf dem Caminho gesehen habe: Hier in Portugal und Spanien werden die Toten eher selten wie bei uns unterirdisch begraben, sondern in bienenwabenähnlichen Bauten in mehreren Etagen über der Erde. Aber kein Ort war so magisch wie dieser hier: Nach dem Übergang vom Leben in eine andere Welt hier seinen Frieden zu finden, mit bester Aussicht auf das Meer des Vergessens – das ist schon echt episch!
Zurück im Ort wird es Zeit für das Abendessen. Im Hafen gibt es hierfür massenhaft Gelegenheit, alle Restaurants bieten das Dreigängemenü für zwölf Euro an. Ich bestelle im ersten Gang eine Fischsuppe, im zweiten Gang eine Meeresfrüchtepaella und zum Dessert eine Zitronencreme. Zuerst bekomem ich einen Brotkorb und eine fast noch ganz volle Flasche Rotwein auf den Tisch gestellt und als ich endlich verstehe, dass das alles für mich vorgesehen ist, weiß ich schon wo die Reise hingeht.

DSC_0863Die Fischsuppe entpuppt sich als stattliche Terrine, aus der ich meinen Teller dreimal fülle, bevor ich kapituliere. Die Kellnerin grinst mich zufrieden an, als sie das Schlachtfeld abräumt. Wahrscheinlich hat sie mit dem Koch gewettet, ob ich die Portion schaffe, und hat gewonnen. Den Paellaberg, der danach den Tisch in die Knie gehen lässt, bezwinge ich alleine schon deswegen, weil es eine Schande gewesen wäre dieses Gericht zurückgehen zu lassen. Um es kurz zu machen: Das war die beste Paella meines Lebens! Die Zitronencreme danach: Ein Traum. An mehr erinnere ich mich leider nicht, denn mit einer Flasche Rotwein im Kopf wanke ich aus dem Lokal in Richtung Herberge.

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Ganz wichtig auf den letzten Metern vorm Ziel: Niemals schneller als 10 Stundenkilometer pilgern, hier gibt es eine Radarkontrolle!

Ach ja, die Herberge. Das hatte ich ja schon verdrängt. Im Schlafsaal sind jeweils immer zwei Stockbetten aneinandergeschoben, nur getrennt durch eine 25 Millimeter dicke Pressspanplatte. Dass es aufgrund der hochwertigen Bauweise der Stockbetten jedes Mal einen Riesenkrach macht, wenn sich jemand im Bett herumdreht, daran habe ich mich bereits gewöhnt. Mit Ohropax in den Ohren bekommt man davon (fast) nichts mit. Aber das hier ist eine andere Situation, denn wenn ich einer umdreht im Schlaf, bringt das gleich zwei Stockbetten ins Wanken und drei andere Pilger dürfen daran teilhaben. Ich kann Euch zwei Dinge zu dieser Nacht sagen: Mindestens einer in unserer Viererkoje hatte einen sehr unruhigen Schlaf und ich habe noch nie auf dem gesamten Caminho so beschissen geschlafen wie in dieser Nacht. Wie ich am nächsten Morgen aussehe und wie ich mich fühle, möge sich nun jeder selbst vorstellen. Zunächst einmal heißt es wie jedes Mal:
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 16: Von Finisterre nach Santiago de Compostela

Nach dieser Nacht möchte ich eigentlich nur noch eines: So schnell wie möglich weg von diesem Ort, und so stehe ich mit geordnetem Sturmgepäck auf dem Rücken um 09:00 Uhr an der Bushaltestelle und erwarte sehnlichst die Ankunft und vor allem die anschließende Abfahrt des Busses nach Santiago de Compostela.

Der Bus fährt vor, die Tür geht auf, ich steige ein (einige andere auch noch), die Tür geht zu, der Bus fährt ab und kaum zwei Stunden später stehe ich am zentralen Busbahnhof von Santiago de Compostela. Mein erster und zugleich wichtigster Punkt auf der To-Do-Liste für heute ist der, ein Einzelzimmer zu finden. Ich bin von den letzten Nächten extrem geschlaucht und wünsche mir gerade nichts mehr als ein großes Bett, eine Türe, die ich hinter mir schließen kann, und vor allem: Ruhe beim Schlafen! Ich setze mich in ein Café, bestelle einen großen Milchkaffee und beginne mit meinem Handy die Suche nach einem Hotel.

Dabei werden mir wieder einmal eindrucksvoll die Grenzen meines technischen Verständnisses aufgezeigt: Ich gehe auf die Seite booking.com (um den Verdacht des Product Placements – neudeutsch für Schleichwerbung – aus der Welt zu schaffen: Es gibt natürlich noch viele weitere hervorragende Hotelbuchungsseiten, wie z.B. trivago oder HRS oder oder oder), gebe dort meinen Aufenthaltsort ein, den Zeitraum, für den ich suche, sowie die Information, dass ich ein Einzelzimmer für eine Nacht suche. Dann nimmt das Unheil seinen Lauf: Obwohl ich alles versuche, bekomme ich nicht mehr als eine Liste von Hotels in der Nähe angezeigt und einen grünen, unverschämt blinkenden Button, der mir sagt: „Wenn Sie die Verfügbarkeit und Preise sehen wollen, geben Sie bitte ihre Reisedaten ein.“ Als ob ich das nicht schon ganz zu Anfang getan hätte! Aber gut, ich beuge mich, drücke den grünen Button und es tut sich: Nichts. Nach einer Viertelstunde gebe ich entnervt auf, schultere meinen Rucksack und laufe zum Hostel „The Last Stamp“, in dem ich bei meinem letzten Aufenthalt bereits genächtigt habe. Das ist zwar wieder kein Einzelzimmer, aber immerhin weiß ich diesmal schon, was mich erwartet. Auch ohne Internet habe ich nun also eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden, das hätte ich also überhaupt nicht gebraucht. Generell glaube ich ja, dass dieses Internet nur ein Hype ist und dass sich das langfristig nicht durchsetzen wird. Habe ich ja grade wieder bewiesen: Ohne geht es auch, und sogar schneller.

Nachdem ich mein Bett bezogen habe, mache ich mich auf den Weg in die Stadt, denn ich muss noch einmal zum Pilgerbüro. Diesmal allerdings nicht um eine Compostela abzuholen, sondern weil gleich daneben ein Verkaufsbüro von Alsa ist, der Busgesellschaft, die Fernbusreisen anbietet. Für 33 Euro erstehe ich eine Fahrkarte für den Bus morgen um 12:00 Uhr. Ich hätte auch schon um 10 Uhr fahren können, das ist mir dann aber doch zu früh, schließlich bin ich ja im Urlaub und da muss es morgens in der Früh noch nicht so hektisch werden. Der Bus um 17:00 Uhr wiederum wäre mir zu spät, ein bißchen anspruchsvoll ist man dann ja doch, also halt der um 12:00 Uhr. In nur etwa vier Stunden werde ich somit eine Strecke überbrücken, für die ich zuvor zehn Tage gebraucht habe. Verrückte Welt!

Alle Pflichttermine sind nun abgehakt, ich habe mein Busticket, ich habe ein Bett für die Nacht, und ein Lokal für das Abendessen habe ich mir auch schon gesucht: Wenn man am Hotel Parador die Treppe hinuntergeht, liegt es gleich an der Ecke, an der man rechts zum Pilgerbüro abbiegt. Auf großen Tafeln preisen sie dort das Tagesmenü für neun Euro an, wie üblich bestehend aus erstem und zweitem Gang, Dessert, Brot und Wein.

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Hätte ich beim Knipsen dieses Bildes doch bloß schon geahnt, vor was für einem Problem ich wenige Tage später stehen würde – ich hätte mir den Straßennamen notiert.

Den Rest des Tages verbringe ich mit ausgiebigem Shopping, was nicht ohne Tücken verläuft: Als ich vor einigen Tagen mit meinen Mädels hier war, habe ich diesen wirklich tollen Laden („The Pilgrim“) entdeckt und mit vorgenommen wieder hier her zurückzukehren. Um den Laden wiederzufinden, habe ich extra ein Foto gemacht. Dank diesem weiß ich nun zwar wieder, wie der Laden von außen aussieht, auch dass er die Hausnummer 15 hat, blöderweise ist auf dem Foto aber kein Straßenname zu sehen. Also laufe ich in jeder Straße der Altstadt von Santiago zum Haus mit der Nummer 15, bis ich irgendwann den Laden finde. Der Einsatz hat sich letztlich aber auf jeden Fall gelohnt, denn hier bekomme ich alles, was ich für mich und als Mitbringsel kaufen wollte.

Nachdem ich nun also mehr oder weniger gewollt die komplette Altstadt abgelaufen habe, gehe ich noch einmal zur Kathedrale, nehme in einer der Bänke Platz und bleibe eine kleine Ewigkeit in mich gekehrt dort sitzen. Danach laufe ich die paar Meter weiter zum bereits erwähnten Restaurant, trete ein, setze mich und tele der Kellnerin mit, dass ich gerne das vor der Tür beworbene Tagesmenü hätte. Sie bringt mir daraufhin eine Karte, auf der zwei Menüs verzeichnet sind: Ein Tagesmenü für 15 Euro und ein Spezialmenü für 25 Euro. Als ich ihr sage, dass ich gerne das Tagesmenü hätte, zeigt sie auf die Karte und sagt, dass das das Tagesmenü sei. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich das draußen beworbene Tagesmenü für neun Euro meine, worauf sich ihre Miene verfinstert, sie an die Theke geht, einen handgeschriebenen Zettel holt, auf dem genau das Menü steht, und mir diesen wortlos auf den Tisch legt. Mit einem Mal ist jegliche Freundlichkeit verflogen, was mir aber egal ist, denn ich will sie ja nicht heiraten, sondern nur etwas essen.

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Ein letzter Abend in Santiago de Compostela mit einem beeindruckenden Sonnenuntergang. Noch vor wenigen Tagen durfte ich bereits einen ähnlichen Anblick genießen, da war es allerdings der Sonnenaufgang, dem ich auf dem Weg nach Finisterre entgegen gelaufen bin.

Das Essen ist okay. Nicht gut und nicht dazu motivierend, noch einmal herzukommen, aber es ist okay. Vielleicht bin ich aber auch von dem gestrigen Menü in Finisterre zu sehr verwöhnt, denn heute habe ich wieder der gleiche bestellt. Gesättigt und von dem Wein leicht angebrütet laufe ich durch eine wunderschöne Abenddämmerung zurück zur Herberge, wo ich von einer barmherzigen Ohnmacht übermannt werde.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 17: Von Santiago de Compostela nach Porto

So habe ich die Kathedrale von Santiago leider nicht sehen können, da sie derzeit flächendeckend eingezäunt ist. Bei meinem letzten Frühstück in dieser wuseligen Stadt stoße ich jedoch im Internet auf dieses Bild, das ich der Welt nicht vorenthalten möchte.

Heute klingelt zum ersten Mal während meiner gesamten Zeit auf dem Caminho kein Wecker; ich schlafe aus und zwar unverschämt lange: Als ich wach werde, ist es schon 09:15 Uhr und spätestens jetzt erweist sich meine Entscheidung bezüglich der gewählten Abfahrtszeit also goldrichtig: 10:00 Uhr wäre stressig geworden. So aber habe ich noch richtig viel Zeit, also packe ich meine Sachen soweit zusammen, dass ich später nur noch meinen Rucksack nehmen und sofort losgehen kann. Dann verlasse ich das Hostel, überquere die kleine Gasse und betrete das Lokal, in dem ich schon so oft war in letzter Zeit, um mir dort zum letzten Mal in Santiago ein Frühstück zu gönnen. Danach hole ich meine Habseligkeiten aus dem Hostel ab und laufe los zum zentralen Busbahnhof von Santiago de Compostela. Das Charmante daran ist, dass es für mich (fast) unmöglich ist mich zu verlaufen, denn vom Hostel aus muss ich lediglich zwanzig Minuten immer der gleichen Gasse folgen und schon bin ich da. Einfach, nicht wahr? Ich schaffe es dann auch tatsächlich auf direktem Weg dorthin, bin allerdings viel zu früh da.

Der Alsa-Bus, der aktuell auf Fahrgäste wartet, fährt nach Paris, da ist die Verlockung schon sehr groß jetzt einfach da einzusteigen und loszufahren. Alternativ könnte ich aber auch einen Bus nach Hamburg oder Budapest nehmen. Mir war bis dato gar nicht bewusst, von wo aus überall Santiago per Bus angesteuert wird (Kein Kunststück, wenn ich bedenke, dass ich bis vor zwei Monaten nie gedacht hätte, selbst einmal nach Santiago zu laufen). Bei einem Gespräch zwischen zwei jungen Männern, die neben mir stehen, schnappe ich zufällig die Reiseroute von einem der beiden auf: Er fährt von Santiago nach Vigo, steigt dort um in einen Bus nach Karlsruhe, steigt dann erneut um und fährt mit dem nächsten Bus nach Stuttgart, nur um dort mit Bus Nummer drei nach Nürnberg zu fahren, von wo aus er dann einen Bus nach München nimmt. „Der ist noch jung“, denke ich mir, „der hat noch Zeit im Leben“. Braucht er in dem Fall auch, denn der Bus fährt um 11:30 Uhr hier in Santiago ab und wenn nichts schief läuft und er jeden Anschluss erwischt, wird er planmäßig um 22:45 Uhr in München ankommen – allerdings erst am morgigen Tag, womit die Fahrt einfach mal über 35 (in Worten: fünfunddreißig) Stunden dauert.

Mit meiner Wahl, übermorgen abend bequem in Porto das Flugzeug zu besteigen und über Brüssel innerhalb weniger Stunden nach München zu gelangen, bin ich nach wie vor sehr zufrieden. Wahrscheinlich kommen wir auch ungefähr zur gleichen Zeit an…

Mit der Zeit füllt sich die Plattform immer mehr mit Menschen, dann kommt der Bus an, der über Porto nach Lissabon fährt, ein Mann, der natürlich Deutscher ist (er kommt aus Düsseldorf), drängelt sich von ganz hinten durch die Schlange nach vorne, ständig laut rufend: „I think I was the first here at the bus station“. Seine Frau zeigt auf mich und und sagt zu ihrem Mann: „Der Mann dort war vor uns da, also darf er auch zuerst einsteigen“, woraufhin ich ihr mitteile, dass es mir völlig egal ist, als wievielter ich einsteige, solange ich einen Sitzplatz im Bus bekomme (was eh klar ist, denn es werden ja nicht mehr Tickets verkauft als Plätze vorhanden sind). „Hach ja, schön, diese deutsche Gelassenheit“ höre ich sie noch sagen (sie ist Inderin), grinse leise in mich hinein und suche mir einen Sitzplatz im Bus. Die Türen schließen sich, der Bus fährt los. Wir halten in einigen der Städte, die ich auf dem Hinweg laufenderweise durchquert habe. Als der Busfahrer erneut anhält und laut „Valença“ ruft, stelle ich sofort meine Armbanduhr eine Stunde zurück, denn jetzt gilt wieder portugiesische Zeit. (Achtung, Spoiler: Wer findet den Fehler? Dazu später mehr…)

Wir erreichen Porto pünktlich auf die Minute um 15:15 Uhr und ich gehe sofort in die Metrostation um mir eine Fahrkarte zur Haltestelle São Bento zu kaufen. Nachdem ich or ut zwei Wochen ja schon einmal kurz hier war, weiß ich jetzt wie das funktioniert.

Am Automaten neben mir stehen zwei junge Damen aus Deutschland, die offensichtlich total überfordert sind. Nachdem ich das Schauspiel einige Zeit verfolgt habe, kann ich nicht anders als mich einzumischen und so erzähle ich ihnen alles, was ich weiß: Dass das Papierticket 60 Cent extra kostet, dafür aber wiederaufladbar ist und die nächsten Fahrten dadurch günstiger sind. Dass eine Fahrt in der Innenzone 1,20 Euro kostet, maximal eine Stunde dauern darf und dass das Ticket bei jedem Umsteigen erneut am Bahnsteig entwertet werden muss, dass dadurch aber jederzeit eine Unterbrechung der Fahrt möglich ist. Und ja, dass eine Fahrt wirklich nur 1,20 Euro kostet. Die beiden bedanken sich überschwänglich bei mir und fragen mich, ob ich in Porto lebe. Wie süß!

Nachdem ich also die gute Tat des Tages vollbracht habe, fahre ich nach São Bento, laufe zur  Kathedrale rauf und hole mir an der Touristeninformation einen Stadtplan. Dort erfahre ich, dass die Straße, in der mein Hotel liegt, gleich an der Station, an der ich gerade ausgestiegen bin, beginnt, ich brauche also nur so lange laufen, bis das Hotel auf der rechten Straßenseite liegt. Unfassbar, wie gut es tut, statt „Herberge“ oder „Unterkunft“ oder „Hostel“ das Wort „Hotel“ zu schreiben. Das Zimmer ist zwar nur unwesentlich größer als ein Wohnklo, aber es hat eine Türe, die ich hinter mir schließen kann und dann bin ich alleine im Zimmer. Ich habe ein eigenes Bad, vor dem ich nicht morgens ewig anstehen muss um dann in Windeseile eine kalte Dusche zu nehmen, während der nächste Wartende bereits von außen an die Türe klopft. Und das beste überhaupt: Ich habe ein riesiges Doppelbett ganz für mich alleine. Um ehrlich zu sein: Normalerweise würde ich aus diesem Hotelzimmer rückwärts wieer rausgehen, aber unter den aktuellen Umständen und dafür, dass es mitten im Stadtzentrum liegt und gerade einmal 45 Euro kostet, ist es absolut in Ordnung.

Den Rest des Tages verbringe ich damit, durch die Gassen der Altstadt zu schlendern, ohne Ziel und weitab der Touristenmagnete. Als es dunkel wird, kehre ich zum Hotel zurück und lege mich entspannt ins Bett, nicht ohne ausgiebig die Stille um mich herum zu genießen.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Traurige Nachricht des Tages: Meinen treuesten Begleiter auf dieser Reise, mit dem ich allen Wetterlagen getrotzt und von dem ich jeden Tag eine Menge gelernt habe, muss ich wohl in Santiago aus den Augen verloren haben, denn als ich in Porto meinen Rucksack auspacke, ist mein Reiseführer nicht mehr da…

Caminho Português – Tag 18: Porto

Gestern abend habe ich mir einen Wecker gestellt, und zwar auf 08:15h, was meiner Meinung nach ein guter Kompromiss ist zwischen gemütlichem Ausschlafen und  genügend Zeit für eine ausgiebige Stadtbesichtigung. Der Wecker klingelt zwar zur eingestellten Uhrzeit, aber irgendetwas kommt mir spanisch vor (Notiz an mich selbst: Später noch fünf Euro ins Phrasenschwein werfen für dieses grottenschlechte Wortspiel). Ich schaue auf meine Armbanduhr und tatsächlich ist es erst 07:15h – da bin ich doch schon mal drauf reingefallen, und schon wieder habe ich beim Grenzübertritt nur meine Armbanduhr umgestellt und nicht auch mein Handy. Noch mal passiert mir das aber nicht!

Ein kurzer Blick auf den Stadtplan genügt und schon kann es losgehen: Das Hotel, in dem ich residiere, liegt direkt am Paços do Concelho, somit sind es nur ein paar Meter bis zur Igreja da Trindade. Von dort aus laufe ich durch die Rua da Conceição, die absolut touristenfrei ist (außer mir natürlich) und mit vielen kleinen Läden punktet. Aber ich bin ja nicht zum Shoppen hier, sondern um schöne Orte zu bestaunen, weshalb ich auch gleich den Praça Parada Leitao ansteuere.

Dort gibt es etwas kurioses, das ich so in dieser Form auch noch nicht gesehen habe: Zwei verschiedene Kirchen in einem einzigen Gebäude, mit getrennten Eingangstüren – links die Igreja dos Carmelitas, rechts die Igreja do Carmo, die linke mit einer unauffälligen, schlichten Fassade, die rechte 140 Jahre später im pompösen Barockstil in das Gebäude hineingebaut. Das ist für mich natürlich perfekt, denn so kann ich gleich zwei Sehenswürdigkeiten auf meiner Liste abhaken, bevor ich auf eben jenem Platz im Café Âncora d’Ouro ein ausgedehntes Frühstück zu mir nehme.

Keine drei Straßen weiter betrete ich die Igreja e Torre dos Clérigos, was sich auch für wenig religiöse Menschen lohnt, denn nach einem kurzen Aufstieg über 260 Stufen hat man einen wunderbaren 360°-Blick über die ganze Stadt. Das lasse ich mir natürlich nicht entgehen, zuvor setze ich mich jedoch für einige Minuten in die Kirche und lausche dem Orgelkonzert, das erst vor wenigen Minuten begonnen hat.

Nachdem ich also dem Konzert gelauscht und anschließend die Stadt in ihrer gesamten Schönheit von oben bewundert habe, laufe ich zum anderen Ende der Rua dos Carmelitas und stehe auch schon in der Livreria Lello, einem Buchladen.

Aber nicht irgendeinem Buchladen, sondern einem Dauergast auf der Liste der 15 schönsten Buchläden der Welt. Komisch, kaum stehe ich drin und lasse das Interieur auf mich wirken, schon fühle ich mich wie in Hogwarts oder zumindest in der Winkelgasse. Das ist allerdings kein Zufall, denn Joanne K. Rowling hat in den 1990ern in Porto gelebt und studiert. Die Legende besagt, dass sie hier in diesem Buchladen gesessen und an ihrem ersten Harry-Potter-Buch geschrieben hat. Vielleicht ja sogar auf genau dem Stuhl, auf dem auch ich gerade sitze und diese Zeilen schreibe – dann bitte, Gott, lasse ein wenig von ihrem Talent und ihrer Phantasie auf mich abfärben!

Den Rest des Nachmittags streife ich wieder ziellos durch die kleinen Gassen der Altstadt. Auf meiner To-Do-Liste sind nur noch zwei Punkte offen: eine Francesinha essen und ein Glas Portwein trinken, denn beides gehört so untrennbar zu Porto wie Bier zu München. Den ersten Punkt möchte ich in einem kleinen Café auf der Rua dos Caldeireiros abhaken. Ich trete ein, frage die Frau hinter der Theke nach einer Francesinha, sie fragt: „Français? English?“, ich gebe ihr zu verstehen, dass ich englisch spreche und sie sagt daraufhin ein paar Sätze, die ich beim besten Willen nicht verstehe. Wir schauen uns eine Weile hilf- und ratlos an, dann packt sie mich am Arm, zerrt mich aus dem Laden, schiebt mich ein kleines Stück die Straße hoch und in das Restaurant „Arcos dos Loios“ hinein, sagt ein paar Worte zu dem Mann hinter der Theke und dann ist sie auch schon wieder verschwunden.

Nur wenige Minuten später steht sie (die Francesinha) vor mir, auf einem Riesenteller, den sie aber alleine so locker ausfüllt, dass die Pommes auf einem gesonderten Teller geliefert werden.

Um zunächst einmal zu klären, was eine Francesinha ist: Es ist quasi das Nationalgericht von Porto. Zur Herstellung nehme man soviele verschiedene Fleischsorten wie möglich, zwänge diese zwischen zwei Scheiben Toastbrot und überschütte das Ganze dann mit mindestens zwei Kilogramm geriebenem Käse. On top kommt noch eine vor Fett triefende Soße und das Gericht danach in den Ofen. Vor dem Servieren ist es essentiell noch ein in reichlich Fett ausgebackenes Spiegelei vorsichtig oben drauf zu drapieren.

Als ich zu Messer und Gabel greife und die Francesinha vorsichtig anschneide, meine ich ein leises Fiepen zu vernehmen – das sind die Kalorien, die ein Fest feiern aus lauter Vorfreude darauf sich in Kürze auf meine Hüften tackern zu dürfen. Ungelogen: Das Teil hat locker 2000 Kalorien! Gegessen wird dieses Gericht – so erzählt mir der Restaurantbesitzer später – übrigens ausschließlich mittags zum Lunch, aber nie abends zum Dinner, dazu sei es zu reichhaltig. Jetzt verstehe ich auch, warum die Portugiesen mittags drei Stunden Siesta machen, denn während ich aus dem Laden herausrolle, verfalle ich langsam aber sicher in ein Fresskoma.

Da in diesem Zustand Bewegung das Beste ist, rolle ich langsam aber sicher den Hügel hinunter in Richtung Rio Ouro, den ich über die Ponte Luis I überquere. Auf der anderen Seite des Flusses liegen die legendären Weinkeller, die ursprünglich gebaut wurden, um Plagiate beim Portwein zu verhindern. So mussten früher grundsätzlich alle Fässer mit Portwein in diesen Kellern eingelagert werden. Da nunmal auch ich nicht irgendein Plagiat verkosten möchte, denke ich mir dort am ehesten fündig zu werden.

Von Berufs wegen ist mir ein bestimmter Keller auf Anhieb vertraut, und so begebe ich mich auf direktem Weg zum Sandeman-Keller, wo ich mich an einem Tisch mit Blick auf den Rio Ouro niederlasse und den Abend mit einer Sangria, bestehend aus Sandeman Porto Founders Reserve, Orangensaft und Grenadine einläute.

Als die Sonne hinter den Hügeln der Stadt versinkt, wird es zunehmend kühler. Ich beschließe den Abend hier am Rio Ouro mit einem Sandeman Porto Tawny auf Eis zu beenden und kehre anschließend leicht angebrütet in das Hotel zurück.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 19: Porto – Brüssel – München

Als ich um kurz nach acht aufstehe, bleibt nicht mehr viel Zeit, denn der Abflug ist bereits für 12:20h angesetzt. Von meinem letzten Kurzaufenthalt in Porto (Siehe Tag 1) weiß ich noch, dass die Fahrt mit der Metro ab São Bento eine gute Dreiviertelstunde dauert, und ich sollte in etwa zwei Stunden vor Abflug am Flughafenn sein. Dass das bei innereuropäischen Flügen nicht zwingend nötig ist, weiß ich auch, aber man weiß ja nie, was mir am Flughafen noch so alles passieren kann (eine lustige Pöbelei zum Beispiel), und einen Verspätungszeitpuffer brauche ich auch immer. So mache ich micht kaum eine Stunde später auf den Weg zu Flughafen.

Ich bin wirklich froh, dass ich alle mir wichtigen Sehenswürdigkeiten bereits gestern abgearbeitet habe. Vor allem bei der Livreria Lello, die ich aufgrund der langen Schlange an der Kasse für die Eintrittskarten (Tatsache: Bei diesem Laden muss man vorher Eintritt zahlen, wenn man ein Buch kaufen möchte!) eigentlich auf heute morgen schieben wollte, wäre es wirklich schade gewesen, hätte ich sie verpasst.

Nichtsdestotrotz: Die Stadt Porto hat mich bereits in den wenigen Stunden, die ich hier verbringen durfte, zutiefst beeindruckt – durch ihre Schönheit, ihre Vielschichtigkeit, die hohe Dichte an Sehenswürdigkeiten, die Freundlichkeit der Menschen, denen ich begegnet bin, und das alles, obwohl ich gerade einmal an der Oberfläche der Stadt gekratzt habe. Eines ist sicher, mein liebes Porto: Wir haben uns heute nicht zum letzten Mal gesehen!

Am Flughafen in Porto läuft alles glatt, außer, dass ich zwei Mal durch die Sicherheitsschleuse muss, weil ich beim ersten Mal meine Armbanduhr nicht auf das Band des Röntgengerätes gelegt habe, der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes aber darauf besteht, dass auch diese durchleuchtet wird. Den flotten Spruch, der mir schon auf der Zunge brennt, schlucke ich herunter, denn immerhin darf ich meine Schuhe anbehalten und das muss belohnt werden.

Als es in die heiße Phase des Boardings geht, mache ich etwas für mich eigentlich untypisches: Ich stelle mich als Erster in die Schlange, so das ich gleich nach den Gehbehinderten und den Eltern mit Kinderwagen einsteigen kann. Der Grund ist allerdings ziemlich banal: Ich habe den Platz 30C bekommen, das ist der Gangplatz in der allerletzten Reihe und ich habe reichlich wenig Lust zu warten, bis alle andern Passagiere in stoischer Gelassenheit ihre viel zu großen Koffer in den Gepäckablagen verstaut und ihre Sitzplätze eingenommen haben.

Was ich in dieser Form noch nie miterlegt habe: Kaum sind alle Passagiere eingestiegen, stürmt der erste Vater – schwer bepackt mit Kleinkind und Umhängetasche – die Toilette um das Kind zu wickeln. Während ich mich mit der Frage befasse, ob das nicht auch im Flughafenterminal möglich gewesen wäre (immerhin gibt es dort ausgewiesene und voll ausgestattete Wickelräume zu genau diesem Zweck) und sich die Flugzeugcrew ihrerseits auf den Start vorbereitet, beobachte ich einen heiteren Pendelverkehr vor der Flugzeugtoilette (im Übrigen funktioniert nur eine von beiden, die andere ist defekt). Noch vor dem Start kann ich verkünden: Von sechs mitreisenden Kleinkindern sind mittlerweile genau sechs Kleinkinder frisch gewickelt, es kann also losgehen. Frage hierzu an die Vielflieger: Dass es den legendären Mile High Club gibt, ist ja hinlänglich bekannt. Gibt es vielleicht auch einen neuen, aufstrebenden „Ich wickle mein Kleinkind auf der Flugzeugtoilette“-Club? Wenn dem so ist, sollte ich mir unbedingt in nächster Zeit ein Kind ausleihen, denn in dem Club möchte ich dann bitte auch Mitglied werden. Werde dazu bei nächster Gelegenheit mal meinen Neffen anhauen, ob er Bock hat mitzumachen…

Etwa eine Stunde nach dem Start verwandelt sich die Truppe der Flugbegleiterinnen in einen aufgeschreckten Hühnerhaufen: Zwei von ihnen kommen so gekonnt unauffällig, dass es auch wirklich jeder im Flugzeug mitbekommt, auf mich zu, stürmen an mir vorbei und hämmern gegen die Toilettentür, die sich auch kurz darauf öffnet. Heraus kommt eine Frau mit schuldbewusster Miene, die trotzdem alles abstreitet, was gesagt wird. Nein, sie habe nicht in der Toilette geraucht, und überhaupt müsse das ein Anzeigefehler sein, den Alarm könne sie überhaupt nicht ausgelöst haben, wegen… Die nächsten fünfzehn Minuten geht die Diskussion so weiter, dann darf sich die Frau, mittlerweile in Tränen aufgelöst, endlich auf ihren Platz setzen. Chapeau, meine Damen, die Aktion war wirklich sehr unauffällig! Der Rest des Fluges verläuft unspektakulär, wir landen, die Anschnallzeichen erlöschen, was völlig egal ist, da eh schon alle aufgesprungen sind, um ja als erste an ihren Koffer in der Kofferablage zu dürfen. Mir ist das egal, ich bin ich ganz hinten gefangen und muss warten, bis alle ausgestiegen sind. Wahrscheinlich bin ich daher auch einer der wenigen, die mitbekommen, dass besagte Dame beim Aussteigen abgefangen und von Polizisten eingefangen. Unter lautem Wehklagen und wiederholtem „Ik heb toch niks verkeerd gedaan!“ wird sie in Handschellen abgeführt. Ich sehe das ein wenig anders, denn es ist allgemein bekannt, dass Rauchen im Flugzeug (a) streng verboten und (b) saugefährlich ist. Die Frau kann noch froh sein, dass sie das auf diesem Flug getan hat, denn in den letzten Jahren betrug die Strafe dafür im Schnitt 175-225 Euro. In den arabischen Staaten hätte sie dafür bis zu fünfzig Peitschenhiebe, in den USA ein paar Monate Gefängnis. Wie auch immer die Geschichte für sie ausgeht: Dieser Flug wird ihr noch lange in Erinnerung bleiben.

Als ich das Flugzeug verlasse und wieder deutschen Boden unter den Füßen habe, wird mir klar, dass die Reise nun auch für mich zu Ende geht, und auch für mich wird diese Reise lange Zeit in Erinnerung bleiben.

Vierhundert Kilometer Weg unter meinen Füßen, fünfzehn Tage Wanderung, bis zu neuneinhalb Stunden Tagespensum, zweimal das Hochgebirge rauf und wieder runter, zwei Tage Regen. Viele Menschen, denen ich begegnen durfte, manche faszinierend, andere nicht so besonders. Manche, bei denen ich es schade fand, dass sich unsere Wege nach einiger Zeit wieder trennten,andere, bei denen ich ehrlich gesagt auch ganz froh darüber war.

Ein mehr als suboptimaler Start, ein spannender erster Abend im Kloster von Vairao, eine Zufallsbegegnung mit… ja, mit „meinen Mädels“. Euch möchte ich an dieser Stelle aus tiefstem Herzen danken, denn ohne euch wäre diese Reise für mich nicht das geworden, was sie letztlich war. Ich habe während dieser Reise eine Wandlung durchgemacht, an der ihr großen Anteil habt, auch wenn euch das so überhaupt nicht bewusst ist. Vielen, vielen Dank dafür, dass ihr so seid, wie ihr seid und dass ihr mich in den Tagen ertragen habt, und dass ihr ich auf diesem Weg begleitet habt, und und und… Ich verdanke euch so vieles, von dem ihr nichts wisst! DANKE! Dank u wel!

 

Fin