RE München – Treuchtlingen, oder: Wer will eigentlich nach Ulm?

Es ist mal wieder so weit und eine weitere Sternwanderung der Familie findet statt.
Ich steige am Hauptbahnhof in den RE; da es zu dieser Zeit keine direkte Verbindung gibt, werde ich einmal umsteigen müssen.

Es ist erfrischend leer im Zug, außer mir sind nur zwei Personen im Wagen. Ich kann mir somit einen 4er-Sitz ergattern, was angesichts meines Ungetüms von Koffer ganz angenehm ist, denn bereits bei der Vorstellung, den Koffer ins Gepäcknetz zu hieven, bekomme ich einen Bandscheibenvorfall.
Ich sitze also eine Zeit lang dort und fahre durch bayrisches Hinterland, bis mir die Leuchtschrift auffällt: Dort steht in dicken roten Lettern “Ulm Hbf” geschrieben. Ich beschließe mehr oder weniger spontan, dass ich da nicht hin möchte, denn mein eigentliches Ziel ist ja Würzburg.
Das bedeutet, dass ich meinen geliebten Platz verlassen muss, denn die Deutsche Bahn operiert noch immer mit geteilten Zügen und natürlich sitze ich Murphy’s Gesetz folgend im falschen Zugteil.

Also schnell alles zusammengepackt, ausgestiegen und in den nächsten Wagen wieder eingestiegen –
doch halt: irgendetwas hindert mich am Einsteigen, egal mit wie viel Nachdruck ich es auch versuche. Ich beschließe mich der menschlichen Wand zu beugen, denn ich kann mich und meinen Koffer in Größe eines durchschnittlichen Kleinwagens wahrlich nicht mehr dazwischen quetschen.

Schnell einen Wagen weiter, die Schaffnerin schaut nervös auf die Bahnhofsuhr, ich ignoriere das und starte einen neuen Versuch. Der Erfolg ist dürftig, denn ich bin zwar drin, aber die Hälfte meines Koffers steht noch auf dem Bahnsteig, so dass die Türen beim penetranten Versuch des Schließens mein armes Reisegepäck kräftig in die Zange nehmen.

Die Schaffnerin – mittlerweile mit Schweiß auf der Stirn und den Tränen nahe, denn sie wird die erste Schaffnerin in der Geschichte des deutschen Bahnverkehrs sein, deren Zug Verspätung hat – deutet mit hektisch kreisenden Armen zur nächsten Zugtür und gestattet mir somit einen letzten Versuch.
Diesmal habe ich mehr Glück, denn auch mein Koffer findet seinen Platz innerhalb geschlossener Türen, sehr zum Leidwesen eines mir unbekannten Mitreisenden.
Meine einzige Möglichkeit, die Schaffnerin davon abzuhalten sich vor den stehenden Zug zu schmeißen, ist nämlich die, mein kompaktes 30kg-Reisegepäck sanft und zentral auf den Fuß jenes Mitreisenden abzusetzen, was ein leichtes und somit leicht zu ignorierendes Aufstöhnen in Begleitung einer akuten Hypertonie im Cranium auslöst (oder einfacher ausgedrückt: Er läuft vor Schmerzen rot an).
Für die Qualen der folgenden 60 Minuten möchte ich mich bei Ihnen, sehr geehrter unbekannter Mitreisender, aus tiefem Herzen aufrichtig entschuldigen. Doch seien Sie versichert, es war für ein höheres Ziel: Meine Fahrt nach Würzburg, mit Zwischenstopp in Treuchtlingen.
Treuchtlingen ist übrigens der Ort, wo besagter Zug endet, und wo die Menschenmassen in diesem Zug offensichtlich hinwollen, dafür möchte offensichtlich niemand nach Ulm.
Das hat mich dazu veranlasst, mich intensiver mit Treuchtlingen auseinanderzusetzen, und all diejenigen unter Euch, die noch nie etwas von der Weltstadt Treuchtlingen gehört haben, sollen nicht dumm sterben, sondern von meinem neu erworbenen Wissen profitieren:

Treuchtlingen, eine Stadt im mittelfränkischen Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, ist ein staatlich anerkannter Erholungsort mit Heilquellen-Kurbetrieb, idyllisch gelegen unmittelbar an der B2.
Historikern wird diese Stadt bekannt sein, gehen ihre Wurzeln doch zurück bis ins sechste Jahrhundert nach Christus. Selbst Größen der Weltpolitik verschlug es bereits hierher, unbestätigten Gerüchten zufolge war der letzte Prominente Karl der Große, der 792 die Baustelle der Fossa Carolina besuchte. Zeitzeugen sind leider nicht mehr aufzutreiben, doch der geneigte Leser kann sich sicherlich im örtlichen Volkskundemuseum (Informations- und Umweltzentrum Treuchtlingen, Tel.: 09142/20 21 8-0 oder 20 21 8-19) ausführlich fortbilden.
Seit dem sechsten Jahrhundert hat es Treuchtlingen mittlerweile auf gigantische 12.928 Einwohner gebracht, das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 126 Einwohnern pro Quadratkilometer.
Laut Internetauftritt gehört neben bereits erwähntem Volkskundemuseum vor allem die Therme zu den Highlights der Stadt. Unter “Wichtige Adressen” sind die Top-3: die Behörde, die Gemeindeschwesternstation und das Klärwerk (jawohl, das Klärwerk steht allen Ernstes auf Platz 3, und ich finde es nebenbei gesagt erstaunlich, dass die Rechtschreibprüfung das Wort “Gemeindeschwesternstation“ kennt, dabei ist das wohl das erste und das letzte Mal gewesen, dass ich dieses Wort schreibe).
Mit diesem neu erworbenen Wissen frage ich mich wirklich: Was will man noch in Ulm, wenn man Treuchtlingen kennt? Ich bekomme immer mehr den Eindruck, dass sich Graham Broadbent bei den Vorbereitungen für seinen Film geirrt hat, eigentlich sollte dieser Blockbuster wohl einen anderen Titel tragen, und zwar: “Treuchtlingen sehen… und sterben?”.

Mit einer kleinen Träne im Augenwinkel verlasse ich Treuchtlingen auch schon wieder, bevor wir überhaupt eine Chance hatten uns gegenseitig näher kennenzulernen. Ich steige aus dem Regionalexpress aus und betrete die Regionalbahn nach Würzburg, die am gleichen Bahnsteig gegenüber bereits auf mich wartet.

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