10. Tag, So, 23.05.2010

YANGZE-KREUZFAHRT TAG 2
Gefühlt mitten in der Nacht werde ich mit chinesischer Folklore über das Schiffsradio geweckt. Ich mache mich fertig für den Tag und begebe mich auf das Oberdeck, denn dort gibt es den Early-Bird-Tea und ich kann den chinesischen Gästen beim Schattenboxen zuschauen. Direkt im Anschluss an das Frühstück verlassen wir das Schiff, denn wir haben über Nacht den Weg zu den Drei Kleinen Schluchten geschafft.
Für diese Schluchten ist unser Kreuzfahrtschiff zu groß, wir müssen auf ein kleineres Schiff umsteigen. Nach neunzig Minuten Fahrt ist der nächste Punkt erreicht: Wir begeben uns in die Kapillarflüsse, die nur mit kleinen Kähnen schiffbar sind. Früher waren sie nur mit Kajaks und Booten zu befahren, der Wasserstand betrug teilweise unter einem halben Meter. Das ist aufgrund des Drei-Schluchten-Programms hinfällig, die Wassertiefe liegt heute bei vierzig Metern.
Wenn der Wasserstand bereits in den kleinsten Nebenflüssen, viele Kilometer vom Staudamm entfernt, um ungefähr vierzig Meter gestiegen ist – es ist unvorstellbar, welche Wassermassen her aufgestaut werden…
Zurück auf unserem Kreuzfahrtschiff bekommen wir eine weitere Konsequenz des Drei-Schluchten-Programms zu spüren: Wo eigentlich Strudel und Stromschnellen sein sollten, ähnelt der Yangze nun vielmehr einer Seenplatte: Abgesehen von einer leichten Strömung ist das Einzige, was für Unruhe auf dem Wasser sorgt, die Bugwelle der Schiffe.
Während der Fahrt passieren wir die Qutang-Schlucht, besser bekannt als „Blasebalg-Schlucht“. Der Name kommt daher, dass das Wasser hier einst wie mit einem Blasebalg durch die Schlucht gedrückt wurde, dabei erreichte das Wasser eine Geschwindigkeit von sieben Metern pro Sekunde, was ungefähr 25km/h entspricht. Wollten wir das miterleben, müssten wir uns wohl eine Taucherausrüstung ausleihen und an den Grund des Yangze tauchen, denn in Höhe des Wasserspiegels ist weder etwas von der Fließgeschwindigkeit noch von der Enge der „Blasebalg“-Formation zu spüren.
Nachmittags lernen wir ein paar grundlegende Dinge über die chinesischen Schriftzeichen. Es gibt über 10.000, jedes Einzelne muss gelernt werden, Ableitung sind größtenteils unmöglich, und um eine Zeitung lesen zu können, muss ein Chinese mindestens 3000 dieser Zeichen kennen. Unsere Reiseleiterin hat uns erzählt, dass selbst ein Muttersprachler oftmals ein Lexikon (oder besser: Bilderbuch, denn die chinesischen Schriftzeichen sehen oft aus wie kleine Kunstwerke) benötigt, um ein Buch zu lesen.  
Den Rest des Tages ruhen wir uns aus, ich sitze auf dem Achterdeck und trinke eine lauwarme Cola (die Kühlschränke sind auf diesem Schiff wohl eher als Zierobjekte einzustufen, denn kalte Getränke gibt es nicht). Der Rest ist Warten auf Godot, oder besser: auf das Abendessen, doch bis dahin sind es immer noch neunzig Minuten. Das Programm ist für den heutigen Tag beendet.

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