Caminho Português – Tag 1: Die Anreise, und: Von Porto nach Vilarinho

Unermüdlich klingelt der Wecker. Ich stehe sofort auf, heute brauche ich nicht einmal die Schlummertaste. Dass ich topfit bin, könnte auch daran liegen, dass ich gestern um 18:00 Uhr ins Bett gegangen bin. Andererseits: Es ist 02:30 Uhr, draußen ist es stockfinster und totenstill.
Ich stehe also auf, gönne mir die letzte heiße Dusche, ziehe die im Flur bereit liegende Wäsche an (Tipp vom Profikoch: Mise en place spart Zeit!) und verlasse meine Wohnung sogar ein paar Minuten vor der geplanten Zeit: Um 03:30 Uhr wollte ich los, zum Hauptbahnhof sind es 3,9 Kilometer, mit Gepäck auf dem Rücken habe ich etwa 50 Minuten veranschlagt, der Zug nach München fährt um 04:39 Uhr – alles läuft bestens.
Am Flughafen komme ich um 06:15 Uhr an, ziemlich genau zwei Stunden vor dem Boarding, ich habe also noch genügend Zeit mich auf dem Flughafengelände zu vergnügen.
Wer mich kennt, weiß, wie sehr es mir in den Fingern (oder besser: Lippen) gejuckt hat, als ich nach Durchschreiten des Körperscanners aufgefordert werde meine Schuhe auszuziehen und auf das Band zu legen. Meine Erwiderung hätte mindestens enthalten, dass das einem Giftgasanschlag gleichkäme. On top hätte ich noch erwähnen können, dass man danach mit einem einfachen Feuerzeug einen Bombenanschlag durchführen könnte. Da die Münchener Polizei da momentan aber verständlicherweise etwas dünnhäutig ist und ich auf jeden Fall heute noch fliegen möchte, erspare ich das allen Beteiligten und stelle stillschweigend meine Stiefel auf das Band.
Während des Fluges nach Brüssel bin ich reichlich nervös, denn ich sitze auf Platz 19C, der ist ganz hinten im Flugzeug. Blöderweise habe ich in Brüssel aber nur vierzig Minuten Zeit um zum Gate A56 zu kommen – eigentlich kann das nur schiefgehen. Dennoch: Als das Flugzeug in Brüssel die Parkposition erreicht, hechte ich los und mache damit schon mal locker fünf Sitzreihen gut. Am Ende der Gangway muss

ich kurz tief durchatmen, denn mein Sprint war nicht von schlechten Eltern. In der Halle sehe ich, dass A56 nur etwa fünfzig Meter von mir entfernt ist. Da habe ich mich wohl unnötig verrückt gemacht. Genauso übrigens, als ich sehe, dass das Gate geändert wurde auf A40 und ich nach einem erneuten kleine Sprint feststelle, dass dort die halbe Belegschaft des letzten Fluges steht – ohne uns wären die also eh nicht geflogen.

Ortswechsel: Porto

Ein (fast) leeres Gepäckband - mein Koffer war leider nicht dabei... (Symbolbild)

Ein (fast) leeres Gepäckband – mein Koffer war leider nicht dabei…
(Symbolbild)

Wir stehen am Gepäckband. Das Band läuft an, die Koffer kommen. Das Band stoppt. Die Familie neben mir tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Ich bleibe ruhig. Auch noch, als das Band ein zweites Mal stoppt und unsere Koffer nicht dabei waren. Nicht mehr ruhig bin ich jedoch, als das Band zum dritten Mal stoppt und über unseren Köpfen das Licht gelöscht wird. Ausgerechnet unsere Koffer haben den Umstieg in Brüssel also nicht geschafft.
Wir gehen zum Lost&Found-Schalter, wo man mir mitteilt, dass mein Rucksack mit dem nächsten Flug nachkommen wird, der in etwa drei Stunden in Porto landen wird. In mir bricht eine Welt zusammen, denn damit wird mein Zeitplan komplett über den Haufen geworfen.
Um nicht sinnlos am Flughafen herumzusitzen fahre ich mit der Metro in die Stadt, was inklusive Umsteigens gut eine Stunde dauert, und hole mir meinen dritten Stempel für mein Credencial in der Kathedrale von Porto ab. Der erste Stempel in meinem Pilgerpass ist von der Jakobusgesellschaft Aachen, die den Pass ausgestellt hat, den zweiten Stempel habe ich mir in der Jakoberkirche in Augsburg abgeholt. Nun auch in Porto frisch gestempelt fahre ich zurück zum Flughafen, wo ich noch einmal eine Ewigkeit warten muss, bevor sich endlich ein Mitarbeiter bequemt mit mir meinen Rucksack zu suchen und ich diesen dann endlich in Empfang nehmen darf.
Mittlerweile ist es bereit 17:00 Uhr und gemäß meinem ursprünglichen Zeitplan wollte ich jetzt schon kurz vor Vilarinho sein und mich langsam aber sicher mit der Frage befassen, ob ich heute noch bis Rates weiterlaufe. Das hätte ich wohl eh nicht gemacht, da ab etwa 17:00 Uhr die Herbergen auch für Fahrradfahrer freigegeben werden und ab da die Chance, noch einen Schlafplatz zu ergattern, gegen den Nullpunkt tendiert.
Und genau gegen diesen Nullpunkt muss ich jetzt anlaufen. Meine erste Entscheidung ist die, bis Forum Maia mit der Metro zu fahren. Erstens wird das von allen einschlägigen Wanderführern empfohlen, da der Weg ab Porto bis dahin zwölf Kilometer lang durch die häßlichen Industriegebiete führt, und zweitens habe ich mich durch meine unfreiwillige Pendelei selbst von der Richtigkeit dieser Empfehlung überzeugen können.
Um 18:05 Uhr stehe ich in Forum Maia – es kann losgehen, endlich! Die ersten grob geschätzten zehn Kilometer laufe ich über Asphalt, immer entlang der Straße. Genauer gesagt: Auf der Straße, denn einen Fußgängerweg gibt es nicht. Stattdessen nutze ich zunächst den Seitenstreifen, der aber blöderweise im 30-Grad-Winkel zur Seite hin abfällt. Als mir das zu beschwerlich wird, laufe ich einfach mitten auf der Straße weiter.

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Auf dem Weg zum Mosteiro de Vairão – Langsam wird’s schon dunkel…

Vor Antritt der Reise habe ich mir die Etappen als .gpx-Dateien heruntergeladen und auf mein GPS-Gerät überspielt. Abgesehen davon, dass es beim Verladen des Gepäcks ins Flugzeug einen heftigen Schlag abbekommen haben muss und das Display gebrochen ist, leistet es treue Dienste. Die Markierungen des Caminho sind neu, die Farbe ist zum Teil noch nicht einmal getrocknet und so weicht die Route oftmals von der Beschreibung im Wanderführer und der GPS-Aufzeichnung ab.
Einmal in Takt gekommen, reiße ich einen Kilometer nach dem anderen runter – ständig im Wettlauf gegen die Zeit, denn viele Unterkünfte auf dieser ersten Etappe – wenn nicht sowieso bereits überfüllt – schließen laut meines Buches die Aufnahme bereits um 19:00 Uhr.
Die Residencial Puma in Vila Nova da Telha lasse ich noch entspannt links liegen, drei Kilometer später werde ich jedoch schwach und ziehe ernsthaft in Betracht, in die Residencia Santa Marinha kurz vor den Toren von Vilar do Pinheiro einzuchecken. Ziemlich traurig eigentlich, hatte ich doch ursprünglich vor, zumindest das Etappenziel in Vilarinho, besser noch das zwölf Kilometer weiter gelegene Sao Pedro de Rates zu erreichen.
Nachdem ich gute fünf Minuten mit mir gekämpft und gerungen habe, ist der Stolz doch größer, ich beiße die Zähne zusammen, sammle alle meine Kräfte und laufe weiter gen Vilarinho. Die Unterkunft dort werde ich nicht mehr erreichen, aber vor den Toren der Stadt gibt es das Mostero de Vairão, ein Kloster, das viel Platz bieten soll und überdies erst um 22:00 Uhr schließt.

Mosteiro de Vairao

Das Mosteiro de Vairao ist erreicht, ich habe einen Schlafplatz für die Nacht!

Die Dämmerung ist bereits weit fortgeschritten, als ich die erleuchtete Kirchturmspitze des Klosters vor mir sehe. Ich möchte nur noch den Rucksack absetzen und ins Bett fallen, aber das wird so schnell nicht passieren.
Ich werde von Pedro, dem Hospitalero mit offenen Armen empfangen, er lädt mich ein in die die Küche zu kommen, wo schon ein gutes Dutzend Pilger zusammen sitzt und ein gemeinsames Abendessen genießt. Nach einer kurzen Dusche (mit heißem Wasser! Welch ein Luxus!) geselle ich mich dazu und stelle beim Essen fest, dass ich meine letzte Mahlzeit vor dem Schlafen eingenommen habe, also vor etwa siebenundzwanzig Stunden. Umso mehr genieße die einfache, aber leckere – wenn auf stark gewürzte – Mahlzeit, die von den anderen zubereitet wurde und revanchiere mich später durch die Teiilnahme am Küchendienst.
Im Anschluss bittet uns Piedro vor die Tür. Er und seine Frau Anna haben heute den achten Hochzeitstag und zu diesem Anlass bereitet er uns allen eine Queimada.


Exkurs: Queimada

Kurz zusammengefasst ist die Bereitung der Queimada ein Brauch, der darauf ausgerichtet ist, böse Geister und vor allem die Meigas, fest im galizischen Volksglauben verankerte Hexen, zu vertreiben. Diesen wird nachgesagt, Menschen aus Spaß, Rache oder jedem anderen Grund zu verfluchen, womit es prinzipiell immer eine Gelegenheit gibt, die Queimada zu zelebrieren.

In einem Tongefäß wird zu dem Zweck Tresterschnaps (Orujo) mit Zucker und Orangen- oder Zitronenschale versetzt und anschließend Kaffeebohnen hinzugefügt. Wie bei der uns bekannten Feuerzangenbowle wird der Alkohol in Brand gesetzt und das Getränk mit einer Kelle geschöpft. Dabei lässt man die brennende Flüssigkeit langsam in den Topf zurückfließen. Dazu wird ein auf galizisch verfasster Text aufgesagt, die sogenannte Conxuro („Beschwörung“). Anbei ein Auszug der populärsten Version:

Mit dieser Kelle erhebe ich die Flammen
dieses Feuers, das ähnlich dem der Hölle werde,
die Hexen werden fliehen auf ihren Besen,
sich zu baden am grobsandigen Strand.
Hört, hört! das Gebrüll derer,
die dem Feuerwasser nicht entkommen
und gereinigt werden in den Flammen.

Wenn dieser Trank geht durch unsere Kehlen,
wird er uns befrei’n vom Bösen uns’rer Seele
und aller Hexerei.

Mächte der Luft, der Erde, des Meeres und des Feuers,
Euch rufe ich an:
Wenn Ihr wahrhaftig mehr Macht habt als menschliche Wesen,
dann macht hier und jetzt, dass die Geister der Freunde, die ferne sind
teilhaben mit uns an dieser Queimada.


DSC_0647Die Atmosphäre ist beeindruckend, dieses Ritual bei Anbruch der Nacht vor der Kulisse des Klostergebäudes im Kreise vieler netter Menschen erleben zu dürfen ist ein Privileg.

Gerade in Verbindung mit den Strapazen des vergangenen Tages geht die Queimada ohne Umweg über den Magen direkt in den Schädel und mich übermannt um 22:45 Uhr eine barmherzige Ohnmacht.
Von einem liebreizenden Gesang werde ich um 05:00 Uhr aus dem Schlaf gehaucht. Es ist mein Wecker, der meinen Wunsch nach geräuscharmem Vibrationsaalarm nicht nachkommt. Viele Grüße auch an alle anderen im Schlafsaal!

Es war Abend, es wurde Morgen – Ein neuer Tag!

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